Johann Gottlieb Kießling -
Weber aus Eibau (1759-1843)
Gesicherte Quellenlage
Johann Gottlieb Kießling wurde am 13. Dezember 1759 geboren und starb am 24. Februar 1843 im hohen Alter von 83 Jahren und 2 Monaten. Diese Lebensdaten sind durch Kirchenbucheintragungen belegt. Als Vater ist Johann Christian Kießling dokumentiert, der am 28. Juni 1772 in Eibau verstarb. Johann Gottlieb war zu diesem Zeitpunkt erst 12 Jahre alt und wuchs somit als Halbwaise auf.
Die als Mutter angegebene "Anna Rosina Schöbel" (angeblich geboren 7. April 1734, gestorben 17. Mai 1801) beruht lediglich auf einer einzelnen Sekundärquelle, die Ungereimtheiten aufweist und nicht verifiziert werden konnte. Diese Angaben konnten bisher nicht durch originale Kirchenbucheintragungen bestätigt werden. Es ist daher möglich, dass Johann Gottliebs tatsächliche Mutter eine andere Person war oder dass die Daten zu Anna Rosina Schöbel fehlerhaft überliefert sind.
Johann Gottlieb hatte nachweislich einen Sohn Johann, geboren am 23. April 1794 in Neueibau, der als "Häusler und Weber" tätig war. Dieser heiratete Johanne Allmer aus Niederfriederdorf (geboren 20. September 1799, gestorben 21. Dezember 1865 in Eibau).
Leben als Weber in der Oberlausitzer Textilregion
Johann Gottliebs Lebensspanne fiel in eine Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher und politischer Umbrüche. Geboren im letzten Jahr des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), erlebte er die napoleonischen Kriege, die Befreiungskriege und den Beginn der industriellen Revolution in Sachsen. Seine außergewöhnliche Lebensdauer von 83 Jahren und 2 Monaten war für die damalige Zeit bemerkenswert, da die durchschnittliche Lebenserwartung im 18. Jahrhundert bei etwa 35 bis 40 Jahren lag. Diese extreme Langlebigkeit war selten und deutet auf günstige Umstände hin: regelmäßige Ernährung, körperlich aktive handwerkliche Tätigkeit und das Fehlen größerer Katastrophen in seinem unmittelbaren Lebensbereich.
Vermutlicher Beruf: Aufgrund der Familientradition - sein Sohn Johann wird explizit als "Häusler und Weber" geführt - war Johann Gottlieb höchstwahrscheinlich ebenfalls in der Textilproduktion tätig. In der Oberlausitz war die Weberei typischerweise ein Erbberuf, der über Generationen in den Familien weitergegeben wurde. Diese Annahme wird durch die regionale Wirtschaftsstruktur gestützt: Eibau entwickelte sich bereits im 18. Jahrhundert zu einem bedeutenden Zentrum der Leinwandweberei.
Die Leinwandproduktion erfolgte zunächst als Heimindustrie, bei der Weber in den Wintermonaten Leinen herstellten, das über etablierte Handelsnetzwerke verkauft wurde. Diese Arbeit war oft mit dem Status eines Häuslers verbunden - einer sozialen Schicht, die kleine Landparzellen besaß, aber hauptsächlich von handwerklicher Tätigkeit lebte. Seine lange Lebensspanne ermöglichte es Johann Gottlieb, dramatische historische Veränderungen mitzuerleben: den Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zur beginnenden Industrialisierung, die napoleonische Fremdherrschaft in Sachsen (1806-1813) und die Entstehung des modernen sächsischen Staates.
Familiäre Kontinuität und sozialer Wandel
Die Weitergabe des Weberberufs an seinen Sohn Johann zeigt die typische berufliche Kontinuität der vorindustriellen Zeit. Johann, geboren 1794, führte die Familientradition als "Häusler und Weber" fort und repräsentierte die letzte Generation der traditionellen Heimweber. Dessen Sohn Adam Kießling (1831-1882) vollzog dann den charakteristischen Wandel des 19. Jahrhunderts und stieg zum "Steinmetz und Tischler" auf.
Diese Entwicklung spiegelt den allgemeinen sozialen Aufstieg wider, den die industrielle Revolution ermöglichte. Während Johann Gottliebs Generation noch in der traditionellen Zunftordnung verhaftet war, konnten seine Nachkommen neue handwerkliche Spezialisierungen ergreifen und sich wirtschaftlich verbessern.
Die genealogische Sackgasse
Johann Gottliebs Vater Johann Christian Kießling (gestorben 1772) markiert eine definitive Forschungsgrenze. Weitere Vorfahren lassen sich mit den verfügbaren Quellen nicht ermitteln. Diese Situation ist charakteristisch für die Überlieferungsprobleme der sächsischen Oberlausitz und hat mehrere systematische Ursachen.
Quellenverluste durch Kriegseinwirkungen: Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) führte auch in der Oberlausitz zur Zerstörung vieler Kirchenbücher. Die schlesischen Kriege (1740-1763) brachten erneut Verwüstungen mit sich. Viele Gemeinden begannen erst nach 1650 wieder mit systematischer Registerführung, und selbst dann gingen Aufzeichnungen durch Brände oder Nachlässigkeit verloren.
Administrative Komplexität: Die Oberlausitz wechselte mehrfach die Herrschaft - von Böhmen zu Sachsen, später zeitweise zu Preußen. Diese politischen Umbrüche führten zu unterschiedlichen Archivierungspraktiken und Aufbewahrungsorten. Relevante Dokumente befinden sich heute in Archiven verschiedener Länder.
Sprachliche Herausforderungen: Die zweisprachige Situation der Region (Deutsch/Sorbisch) erschwert die Recherche erheblich. Familiennamen wurden oft in beiden Sprachformen geführt, wobei die Schreibweisen erheblich variierten.
Theoretische Forschungsansätze bleiben dennoch möglich. Das Staatsarchiv Dresden verwahrt umfangreiche, bisher nicht systematisch durchsuchte Bestände zur Oberlausitz. Kirchenbücher der Nachbargemeinden könnten Familienzusammenhänge erhellen. DNA-genealogische Vergleiche mit anderen Kießling-Linien in Sachsen und Böhmen könnten Verwandtschaftsbeziehungen identifizieren. Diese Ansätze erfordern jedoch mehrsprachige Kenntnisse und jahrelange Archivarbeit mit ungewissem Erfolg.
