Vom verborgenen Zeichen zum öffentlichen Symbol

Die Entwicklung der christlichen Kreuzsymbolik in den ersten Jahrhunderten

Das Kreuz ist heute eines der zentralen Symbole des Christentums und das Zeichen der Erlösung durch Christus. Doch der Weg vom privaten Bekenntnis zur öffentlichen Darstellung erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte. Diese Seite zeichnet die historische Entwicklung nach: Von den ersten verdeckten Formen christlicher Kreuzsymbolik über das konstantinische Chi-Rho-Monogramm bis zur Durchsetzung des lateinischen Kreuzes im 5. Jahrhundert. Die Darstellung unterscheidet dabei klar zwischen drei verschiedenen Symbolen: dem Staurogram (eine frühe Ligatur in biblischen Handschriften), dem Chi-Rho-Monogramm (dem konstantinischen Christuszeichen) und dem lateinischen Kreuz in seiner schlichten Form. Die Rekonstruktion basiert auf archäologischen Funden, literarischen Quellen und numismatischer Evidenz.

Die Ausgangssituation

In den ersten drei Jahrhunderten nach Christus galt die Kreuzigung im römischen Reich als besonders entehrende Todesstrafe, die in der Regel Sklaven und Aufständischen vorbehalten war. Römische Bürger wurden üblicherweise nicht gekreuzigt, außer in schwerwiegenden Ausnahmefällen wie Hochverrat. Für Christen war das Kreuz dennoch von Anfang an ein zentrales Zeichen ihrer Erlösungshoffnung, denn am Kreuz hatte Christus den Tod besiegt. Das Kreuz wurde zum Kern christlicher Heilsverkündigung und zum Fundament der Hoffnung auf Auferstehung. Doch die offene Darstellung des Kreuzes war in dieser Zeit aus zwei Gründen problematisch: Erstens verachteten viele Römer die Vorstellung, einen Gekreuzigten zu verehren. Zweitens waren Christen sporadischen Verfolgungen ausgesetzt, bei denen erkennbare christliche Symbole gefährlich werden konnten. Frühe christliche Gemeinden entwickelten daher eine vielfältige Symbolsprache. Besonders verbreitet war der Fisch, da das griechische Wort ΙΧΘΥΣ (ichthys) als Akrostichon gelesen werden konnte: Ἰησοῦς Χριστὸς Θεοῦ Υἱὸς Σωτήρ (Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser). Auch der Gute Hirte und der Anker fanden Verwendung, letzterer als verhülltes Kreuzsymbol, das für Außenstehende nicht sofort erkennbar war.

Frühe Zeugnisse christlicher Kreuzsymbolik um das Jahr 200

Drei unabhängige Quellen aus der Zeit um 200 belegen, dass Christen bereits damals das Kreuz in verschiedenen Formen verehrten und nutzten, wenn auch noch nicht in offener bildlicher Darstellung. Diese frühen Zeugnisse zeigen die tiefe Verbundenheit der Christen mit dem Kreuz als Zeichen der Erlösung, trotz aller äußeren Widrigkeiten. Der nordafrikanische christliche Schriftsteller Tertullian berichtet um das Jahr 200, dass Christen sich bei allen alltäglichen Verrichtungen mit dem Kreuzzeichen bekreuzigen – beim Verlassen des Hauses, beim Essen, beim Baden.¹ Diese Handbewegung auf der Stirn war eine persönliche Frömmigkeitspraxis, mit der Christen sich unter den Schutz des Kreuzes Christi stellten. Das Kreuzzeichen war eine private Geste des Bekenntnisses und ein Ausdruck der Gewissheit, dass im Kreuz Christi Heil und Schutz zu finden sind. Es war noch kein öffentlich sichtbares Symbol, sondern eine intime geistliche Praxis.

Ein Graffito vom Palatin in Rom, das um 200 entstand, zeigt, dass Außenstehende die christliche Kreuzverehrung wahrnahmen.² Das Bild verspottet die Verehrung des Gekreuzigten. Für Christen war das Kreuz das Zeichen des Sieges über den Tod, für römische Betrachter blieb es unverständlich, wie man einen Gekreuzigten verehren konnte. Das Graffito bestätigt unfreiwillig die zentrale Stellung, die das Kreuz bereits um 200 in der christlichen Frömmigkeit einnahm. Die dritte Quelle stammt von Marcus Minucius Felix, einem christlichen Autor, der um 200 den Octavius verfasste, eine Verteidigungsschrift des Christentums in Dialogform. Ein fiktiver heidnischer Gesprächspartner wirft darin den Christen vor, sie würden "das todbringende Kreuzesholz" verehren. An anderer Stelle erwähnt derselbe Sprecher jedoch, dass Christen gekreuzigt werden, aber keine Kreuze anbeten.³ Diese scheinbare Spannung zeigt: Außenstehende registrierten eine Form christlicher Kreuzsymbolik, konnten sie aber nicht eindeutig deuten. Minucius Felix selbst verteidigt als Christ die eigene Gemeinschaft und ist somit Akteur dieser Entwicklung, nicht neutraler Beobachter.

Eine frühe Kreuzabkürzung in biblischen Handschriften: Das Staurogram

Eine frühe schriftliche Bezugnahme auf das Kreuz Christi findet sich in Form des Staurogramms. Dieses Zeichen ist eine Ligatur aus zwei griechischen Buchstaben: Tau (Τ) und Rho (Ρ), die typographisch miteinander verschmolzen werden. Das Staurogram erscheint in frühchristlichen Bibelhandschriften als Abkürzung für das griechische Wort σταυρός (stauros), das "Kreuz" bedeutet, sowie für das Verb σταυρόω (stauroo), "kreuzigen". Drei frühe Papyri belegen die Verwendung des Staurogramms bereits zwischen etwa 175 und 225.⁴ In diesen Handschriften wird das Staurogram gezielt in Passagen verwendet, die von der Kreuzigung Jesu berichten. Es handelt sich um eine Ligatur, also eine typographische Verschmelzung zweier Buchstaben, die in antiken Handschriften als Abkürzungstechnik üblich war. Das Staurogram gehört zu den nomina sacra, den heiligen Abkürzungen, mit denen frühchristliche Schreiber zentrale theologische Begriffe markierten.

Die wissenschaftliche Debatte dreht sich um die Frage, ob das Staurogram lediglich eine funktionale Abkürzung war oder bereits bildliche Qualität besaß. Der Neutestamentler Larry Hurtado vertritt die These, dass das Staurogram die früheste visuelle Darstellung des gekreuzigten Christus sein könnte, etwa 100 bis 150 Jahre vor dem bekannteren Chi-Rho-Monogramm.⁵ Seine Argumentation: Die Ligatur aus dem vertikalen Tau und dem Rho mit seinem gebogenen oberen Teil ergibt eine Figur, die einem gekreuzigten Menschen ähnelt. Da das Staurogram gezielt in Kreuzigungspassagen verwendet wurde, könnte dies eine bewusste visuelle Gestaltung gewesen sein. Andere Forscher sehen das Staurogram hingegen primär als Schreibkonvention ohne bildliche Absicht. Die kreuzähnliche Form sei ein Nebeneffekt der Buchstabenkombination, nicht ihre Intention. Für diese Position spricht, dass ähnliche Ligaturen in antiken Handschriften rein funktional verwendet wurden. Gesichert ist: Das Staurogram markierte das Kreuz Christi in den biblischen Texten auf eine Weise, die für Eingeweihte bedeutungsvoll, für Außenstehende aber als bloße Abkürzung deutbar war.

Verdeckte Symbolik als Schutzstrategie

Die drei Quellen aus der Zeit um 200 – das Staurogram in Bibelhandschriften, Tertullians Zeugnis über das private Kreuzzeichen und die bei Minucius Felix referierte Wahrnehmung christlicher Kreuzsymbolik – werfen eine wichtige Frage auf: Warum finden wir aus dieser Zeit keine offenen, öffentlichen Darstellungen des Kreuzes in seiner schlichten bildlichen Form? Die Antwort liegt vermutlich in der Verfolgungssituation. Während der sporadischen und lokalen Christenverfolgungen im 2. und 3. Jahrhundert war die offene Zurschaustellung christlicher Symbole gefährlich. Ein erkennbares christliches Zeichen konnte den Träger identifizieren und in Lebensgefahr bringen. Zugleich war die Kreuzigung eine aktive, zeitgenössische Strafpraxis. Die offene Darstellung eines Kreuzes hätte nicht nur das christliche Bekenntnis markiert, sondern auch an eine verachtete Form der Exekution erinnert.

Christen entwickelten daher eine verdeckte Bildsprache. Das Staurogram und später das Chi-Rho waren ursprünglich Ligaturen, die als bloße Abkürzungen gedeutet werden konnten. Sie waren mehrdeutig interpretierbar und daher für Christen "sicherer" als ein offenes Kreuz. Der Ichthys (Fisch) funktionierte ähnlich: Für Eingeweihte war er eine Bekenntnisformel (die Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes ΙΧΘΥΣ ergaben "Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter"), für Außenstehende nur ein Fisch. Diese verdeckte Symbolik ermöglichte es christlichen Gemeinschaften, ihre Identität auszudrücken und religiöse Texte zu markieren, ohne sich unmittelbar erkennbar zu machen. Das Kreuz war für Christen ein zentrales Heilszeichen und Ausdruck der Erlösungsgewissheit, doch seine öffentliche Darstellung musste der historischen Situation angepasst werden. Die Treue zum Kreuz blieb ungebrochen, seine Sichtbarkeit jedoch war den äußeren Umständen unterworfen.

Konstantins Vision und das Chi-Rho

Das Jahr 312 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte christlicher Symbolik. Der römische Kaiser Konstantin stand vor der entscheidenden Schlacht an der Milvischen Brücke bei Rom gegen seinen Rivalen Maxentius. Zwei zeitgenössische christliche Autoren berichten übereinstimmend, dass Konstantin durch eine Vision oder einen Traum dazu geführt wurde, ein christliches Symbol auf den Schilden seiner Soldaten anbringen zu lassen und so den Sieg errang.

Der christliche Rhetor Laktanz schrieb bereits um 315, also nur drei Jahre nach dem Ereignis, über Konstantins Erfahrung. Er berichtet, Konstantin sei im Traum ermahnt worden, das himmlische Zeichen Gottes auf den Schilden anbringen zu lassen.⁶ Laktanz' Beschreibung ist allerdings nicht eindeutig: Der Buchstabe X (Chi) sei "durchgestrichen" worden, wobei "die Spitze umgebogen" wurde. Diese Formulierung könnte auf ein Chi-Rho hindeuten, ebenso aber auf ein Staurogramm oder eine andere Buchstabenkombination. Laktanz war Lateiner und beschrieb ein griechisches Zeichen, das ihm nicht vollständig vertraut war. Die genaue Form bleibt daher unsicher. Der Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea verfasste etwa 25 Jahre später eine Biographie Konstantins. Seine Darstellung ist ausführlicher: Konstantin habe am Mittag eine Himmelserscheinung gesehen – ein leuchtendes Kreuz über der Sonne mit der Inschrift "Durch dieses siege!". Laut Eusebius habe das gesamte Heer diese Vision bezeugt. Konstantin ließ daraufhin ein Feldzeichen anfertigen, das Labarum genannt wurde.⁷

Die beiden Berichte unterscheiden sich in einigen Details hinsichtlich der Zeit des Ereignisses und der genauen Form des gesehenen Symbols. Dies ist bei antiken Quellen nicht ungewöhnlich und kann verschiedene Gründe haben: unterschiedliche Zeitpunkte der Niederschrift, verschiedene Gesprächspartner oder unterschiedliche literarische Absichten der Autoren. Beide Berichte stimmen jedoch darin überein, dass Konstantin durch ein christliches Zeichen zum Sieg geführt wurde und dieses Zeichen daraufhin als offizielles Symbol annahm.

Die numismatische Evidenz – also die erhaltenen Münzprägungen – zeigt durchgehend das Chi-Rho, nicht das schlichte lateinische Kreuz. Konstantins offizielles christliches Symbol war das Chi-Rho-Monogramm, das ab 315 auf Münzen erscheint.⁸ Auch das berühmte Labarum, Konstantins purpurnes Feldzeichen, trug das Chi-Rho an seiner Spitze.⁹ Konstantins Wahl des Chi-Rho ist bemerkenswert: Er wählte bewusst ein bereits etabliertes christliches Zeichen, keine neue Erfindung. Das Chi-Rho war – wie zuvor das Staurogram – eine Ligatur, die als Christusmonogramm fungierte. Die verdeckte Symbolik der Verfolgungszeit wurde nun zum öffentlichen kaiserlichen Symbol erhoben. Mit Konstantins Sieg und der nachfolgenden Tolerierung des Christentums (Mailänder Vereinbarung 313) begann eine neue Ära: Christliche Symbole konnten nun öffentlich gezeigt werden, und das Kreuz Christi – wenn auch zunächst in seiner verschlüsselten Form als Chi-Rho – konnte seine zentrale Stellung im öffentlichen Raum einnehmen.

Das Chi-Rho als vorherrschendes christliches Symbol der konstantinischen Zeit

Von 312 bis etwa 350 war das Chi-Rho das vorherrschende christliche Symbol. Es erscheint nicht nur auf Münzen, sondern auch auf Sarkophagen, in Katakomben-Fresken, auf liturgischen Geräten und Grabringen. Das Chi-Rho wurde zum öffentlichen Erkennungszeichen christlicher Identität im konstantinischen und nachkonstantinischen Reich. In dieser Zeit fand auch eine wichtige rechtliche Änderung statt: Konstantin schaffte die Kreuzigung als Strafpraxis ab, vermutlich zwischen 320 und 337. Mit dem Ende dieser Praxis verlor das Kreuz seinen unmittelbaren Bezug zur zeitgenössischen Exekutionswirklichkeit. Dies war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Kreuz später als Heilszeichen dargestellt werden konnte, ohne unmittelbare Assoziationen mit gegenwärtiger Gewalt hervorzurufen.

Konstantins Mutter Helena unternahm 325 oder 326 eine Pilgerreise nach Jerusalem und ließ Kirchen über den heiligen Stätten errichten.¹⁰ Nach christlichen Quellen fand Helena während dieser Reise das Kreuz Christi auf. Die früheste literarische Erwähnung dieser Kreuzauffindung stammt von Cyrill von Jerusalem um das Jahr 350.¹¹ Die Auffindung des Kreuzes verstärkte dessen Bedeutung als heilige Reliquie und Gegenstand der Verehrung.

Wann wird das offene lateinische Kreuz möglich?

Die bisherige Darstellung zeigt: Um 200 existiert christliche Kreuzsymbolik in verdeckter Form (Staurogram in Bibelhandschriften, privates Kreuzzeichen, Wahrnehmung bei Minucius Felix). Um 312 wird das Chi-Rho zum offiziellen kaiserlichen Symbol. Doch wann wird das offene lateinische Kreuz in seiner schlichten Form (†) zum vorherrschenden Symbol in der christlichen Bevölkerung? Der früheste mögliche Zeitpunkt (terminus post quem) liegt nicht unmittelbar nach der Mailänder Vereinbarung von 313, sondern erst nach der Abschaffung der Kreuzigung als Strafpraxis um 320. Beide Voraussetzungen mussten zusammenkommen: das Ende der Christenverfolgungen und das Ende der aktiven Kreuzigungspraxis. Der terminus post quem liegt also realistischerweise um 320 bis 330. Der späteste Zeitpunkt (terminus ante quem) lässt sich durch die numismatische Evidenz bestimmen. Münzprägungen zeigen das lateinische Kreuz erst ab etwa 400 bis 450, nicht bereits um 350. Die archäologische Evidenz auf Grabsteinen und Sarkophagen bestätigt diesen späteren Zeitraum. Der terminus ante quem liegt also realistischerweise um 400 bis 450.

Zwischen 320 und 450 liegt somit der entscheidende Transformationszeitraum, in dem das offene lateinische Kreuz möglich wird und sich allmählich durchsetzt. Dies erklärt auch Konstantins bewusste Wahl des Chi-Rho im Jahr 312: Das Chi-Rho war ein bereits etabliertes christliches Zeichen aus der Verfolgungszeit, erkennbar für Christen als Christusmonogramm, aber als Ligatur kulturell weniger belastet als ein offenes Kreuz. Die vollständige Transformation von der verdeckten zur offenen Kreuzsymbolik benötigte weitere Jahrzehnte.

Der graduelle Übergang zum lateinischen Kreuz

Ab der Mitte des 4. Jahrhunderts beginnt also ein gradueller Wandel. Das lateinische Kreuz – die schlichte Kreuzform ohne Buchstabenkombination – erscheint zunächst vereinzelt neben dem Chi-Rho und befindet sich im Aufstieg. Die archäologische Evidenz zeigt diesen Prozess deutlich: Während das 4. Jahrhundert noch klar vom Chi-Rho geprägt wird, erscheinen ab etwa 400 bis 450 die ersten Münzen mit dem lateinischen Kreuz. Auf Grabsteinen und Sarkophagen vollzieht sich derselbe Übergang. Im 5. Jahrhundert wird das lateinische Kreuz zum vorherrschenden Symbol, das Chi-Rho verschwindet aber nicht völlig, sondern findet noch vereinzelt Verwendung.

Parallel zur bildlichen Entwicklung verändert sich auch die literarische Darstellung. Cyrill von Jerusalem spricht um 350 ausführlich von der Kreuzverehrung.¹² Johannes Chrysostomus bezeichnet in seinen Predigten um 400 das Kreuz als Siegeszeichen und christliches Identitätssymbol.¹³ Die Verkündigung des Kreuzes als Heilszeichen wird zunehmend selbstverständlich. Das Kreuz wird nun offen als das zentrale Symbol der christlichen Erlösungshoffnung gepredigt und gefeiert. Im 5. Jahrhundert ist diese Transformation weitgehend abgeschlossen: Das lateinische Kreuz ist nun das vorherrschende christliche Symbol auf Münzen, Sarkophagen, liturgischen Geräten und in der Kirchenarchitektur. Die Kreuzform wird zu einem wichtigen Gestaltungsprinzip des Kirchenbaus – die sogenannte Kreuzbasilika entsteht. Das Kreuz hat seinen Platz als sichtbares, öffentliches Zeichen der Erlösung gefunden.

Vom verborgenen zum öffentlichen Zeichen

Was bedeutete das Kreuz für die christlichen Gemeinschaften des 5. Jahrhunderts? Es symbolisierte den Sieg über Tod und Sünde, die Erlösung durch Christus, die Auferstehung und die christliche Identität. Das Kreuz war Hoffnungszeichen und Bekenntnissymbol zugleich, Ausdruck der Gewissheit, dass Christus durch seinen Tod am Kreuz die Macht des Todes gebrochen hat. Diese Bedeutungsschichten, die für Christen von Anfang an zentral waren, konnten nun offen in Predigten, literarischen Texten und liturgischen Handlungen zum Ausdruck gebracht werden. Die Transformation lässt sich so beschreiben: Aus dem verborgenen Zeichen der Verfolgungszeit (1. bis 3. Jahrhundert) wird über einen kulturellen Öffnungsprozess (initiiert durch die konstantinische Zeit) und eine Koexistenzphase von Chi-Rho und lateinischem Kreuz (350 bis 450) schließlich das offene lateinische Kreuz als Heilszeichen (ab dem 5. Jahrhundert).

Aus der Perspektive der Gedächtnistheorie, wie sie der Ägyptologe Jan Assmann entwickelt hat, lässt sich dieser Prozess als Transformation des kulturellen Gedächtnisses verstehen. Das Kreuz durchläuft eine semiotische Neukodierung: Während in der römischen Kultur die Kreuzigung als schmachvoll galt, wurde das Kreuz für Christen von Anfang an als Zeichen der Erlösung verstanden. Diese christliche Bedeutung konnte jedoch erst nach dem Ende der Verfolgungen und der Abschaffung der Kreuzigung öffentlich sichtbar gemacht werden. Im 5. Jahrhundert ist das kulturelle Gedächtnis der christlichen Gemeinschaften so weit gefestigt, dass das Kreuz primär als Siegeszeichen Christi erinnert und dargestellt wird. Diese Festigung vollzieht sich durch ritualisierte Wiederholung in Liturgie und Predigt, durch materielle Fixierung in Kunst und Architektur und durch narrative Integration in die christliche Heilsgeschichte.¹⁴

Der entscheidende Entwicklungssprung liegt in der Zeit zwischen Tertullians privatem Kreuzzeichen um 200 und der ersten bildlichen Verwendung des lateinischen Kreuzes um 400 bis 450. In diesen 200 bis 250 Jahren vollzieht sich der Übergang vom verborgenen zum öffentlichen Zeichen. Das Kreuz, für Christen von jeher ein zentrales Symbol der Erlösung und Ausdruck tiefster theologischer Überzeugung, konnte nun offen als solches dargestellt werden.

Zusammenfassung

Die Entwicklung der christlichen Kreuzsymbolik verlief über mehrere Phasen: Im 1. bis 3. Jahrhundert verehrten Christen das Kreuz als Zeichen der Erlösung, nutzten es jedoch in verdeckter Form. Welche konkreten Symbole im 1. Jahrhundert Verwendung fanden, bleibt allerdings spekulativ, da die Quellenlage für diese frühe Phase äußerst dünn ist. Das Staurogram erscheint ab etwa 175 bis 225 als Abkürzung in Bibelhandschriften. Das private Kreuzzeichen als Geste ist ab etwa 200 belegt. Christliche Autoren wie Minucius Felix bestätigen, dass Außenstehende christliche Kreuzsymbolik registrierten, sie aber nicht eindeutig deuten konnten. Trotz aller Verfolgungen und Widrigkeiten hielten Christen an der Verehrung des Kreuzes fest.

Das Jahr 312 bringt Konstantins Vision und die Einführung des Chi-Rho-Monogramms als offizielles christliches Zeichen. Von 312 bis etwa 350 ist das Chi-Rho vorherrschend auf Münzen, Sarkophagen und in der Grabkunst. Die Mailänder Vereinbarung von 313 beendet die Verfolgungen, die Abschaffung der Kreuzigung um 320 verändert die Wahrnehmung des Symbols. Beide Ereignisse zusammen schaffen die Voraussetzung für die spätere offene Darstellung des lateinischen Kreuzes. Die Übergangszeit zwischen 350 und 450 ist geprägt von der Koexistenz von Chi-Rho und lateinischem Kreuz sowie der zunehmend selbstverständlichen Verkündigung der Kreuzverehrung. Das lateinische Kreuz befindet sich in dieser Phase im Aufstieg. Die numismatische Evidenz zeigt das lateinische Kreuz erstmals ab etwa 400 bis 450. Im 5. Jahrhundert setzt sich schließlich das lateinische Kreuz als vorherrschendes Symbol durch. Diese Entwicklung zeigt, wie ein religiöses Symbol seine Darstellungsformen über Jahrhunderte hinweg verändert – nicht weil sich seine Bedeutung für die Gläubigen grundlegend gewandelt hätte, sondern weil sich die äußeren Bedingungen änderten: von Verfolgung zu Tolerierung, von aktiver Strafpraxis zu historischer Erinnerung, von verdeckter Notwendigkeit zu offener Möglichkeit. Die Treue der Christen zum Kreuz als Zeichen der Erlösung blieb über alle Jahrhunderte hinweg bestehen, unabhängig davon, in welcher Form das Kreuz dargestellt werden konnte.

 

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Fußnoten: ¹ Tertullian, De Corona Militis III (BKV) · ² Alexamenos-Graffito, Palatin Rom, Museo Palatino, ca. 200 n.Chr. · ³ Minucius Felix, Octavius IX,4 und XII,4 (BKV) · ⁴ P45 (Chester Beatty Papyrus I, ca. 200–250 n.Chr.), P66 (Papyrus Bodmer II, ca. 200 n.Chr.), P75 (Papyrus Bodmer XIV-XV, ca. 175–225 n.Chr.) · ⁵ Hurtado, Larry W.: The Earliest Christian Artifacts. Manuscripts and Christian Origins, Grand Rapids/Cambridge 2006, S. 135-154 · ⁶ Laktanz, De Mortibus Persecutorum 44 (BKV) · ⁷ Eusebius von Caesarea, Vita Constantini I,28-31 (BKV) · ⁸ Konstantinische Münzprägungen 315-317, RIC VII Ticinum 36 · ⁹ Eusebius, Vita Constantini I,31 (BKV) · ¹⁰ Eusebius, Vita Constantini III,42-47 (BKV) · ¹¹ Cyrill von Jerusalem, Catecheses 4,10 und 13,4 (BKV) · ¹² Cyrill von Jerusalem, Catecheses (BKV) · ¹³ Johannes Chrysostomus, Homilien (BKV) · ¹⁴ Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992

Letzte Überarbeitung: 25. Oktober 2025

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