
Der Junge am Fenster
Oder: Wer Gott kennt, liebt Ihn – und wer Ihn liebt, dient Ihm
(beruht auf einer wahren Geschichte)
In einem der ärmlichen Häuser im Londoner Osten lag ein gelähmter Junge in einer dunklen Dachkammer. Seit über zwei Jahren hatte er diesen Raum nicht mehr verlassen. Seine Eltern waren früh gestorben und hatten ihn der Obhut einer alten Tante überlassen.
Von Geburt an gelähmt, hatte der Junge schon immer gelitten. Solange er noch konnte, hatte er sich auf Krücken durch die Straßen geschleppt, um einen Überweg zu fegen oder kleine Botengänge zu erledigen – alles für ein paar Pennys. Doch nach dem Tod seiner Eltern wurde er bettlägerig. Die alte Frau erlaubte ihm widerwillig, die Kammer unter dem Dach zu bewohnen, die er nie wieder verlassen sollte.
Seine Mutter hatte ihm Lesen und Schreiben beigebracht. Doch die Wahrheit über Jesus und Seine Liebe hatte sie ihm nicht vermitteln können – sie selbst kannte sie nicht. Tag für Tag allein in seinem Zimmer, erwachte in dem Jungen eine tiefe Sehnsucht: Er wollte mehr über Gott erfahren und eine eigene Bibel besitzen. Eines Tages fasste er sich ein Herz und fragte die Tante danach.
Ihre Antwort war ein spöttisches Lachen. „Bibeln gehören nicht zu meinem Leben! Was will ein Junge wie du mit einer Bibel?" Das Thema war damit vorerst beendet – doch die Sehnsucht des Jungen wurde nur stärker.
Dann, eines Tages, polterte Jack die knarrende Treppe hinauf – der einzige Freund, den der gelähmte Junge hatte. „Hurra! Ich hab eine neue Stelle! Morgen geht's nach Norden! Ich komme, um mich zu verabschieden, Tom", rief er aufgeregt, setzte sich auf das Bett und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Aber ich hab ein echtes Geschenk für dich, mein Junge!" Er zog etwas aus seiner Tasche, in braunes Papier gewickelt.
Tom richtete sich auf seinen Ellbogen auf, wenig erfreut über die Nachricht. „Ein nagelneuer Schilling für dich, Tom. Aber gib ihn erst aus, wenn du wirklich etwas Besonderes brauchst."
„Oh, Jack! Du bist so gut – aber ich brauche jetzt schon etwas ganz Besonderes."
„Was denn?"
„Ich möchte eine Bibel."
„Eine Bibel! Das gibt's doch nicht! Wer hat je gehört, dass ein armer Junge sein ganzes Geld für eine Bibel ausgibt, wo ich doch monatelang gespart habe, um den Schilling zusammenzukratzen!"
„Sei nicht böse, lieber Jack", sagte der gelähmte Junge. „Du gehst fort, und ich werde einsamer sein als je zuvor. Und ich möchte so gern eine Bibel haben. Bitte hol sie mir, Jack – noch heute Abend, bei Fisher, bevor der Laden schließt. Ich muss herausfinden, ob die Leute in der Missionsstation, wo wir manchmal hingegangen sind, die Wahrheit über Jesus gesagt haben. Lass es dein Abschiedsgeschenk sein, Jack – du würdest mich so glücklich machen."
„Na gut, Junge, dann gehe ich. Aber ich verstehe nichts vom Bibelkaufen."
Jack ging ziemlich mürrisch die Treppe hinunter, langsamer als er hinaufgekommen war. Doch seine Enttäuschung war verflogen, als er mit einer schönen Schilling-Bibel zurückkehrte.
Toms Freude war grenzenlos. „Ich wusste es, Jack! Ich wusste es!" Er drückte das Buch an seine Brust. „Jetzt bin ich glücklich. Oh, wie gut du warst, diesen Schilling zu sparen!"
Die beiden Jungen sahen sich nie wieder. Doch hätte der ehrliche Laufbursche nur gewusst, welch kostbarer Schatz dieses Heilige Buch für seinen gelähmten Freund werden würde – er wäre reichlich belohnt worden für das Opfer, das er gebracht hatte.
Nach einem Monat intensiven Lesens kannte Tom mehr über seine Bibel als manch einer, der vorgibt, sie zwanzig Jahre lang studiert zu haben. Er hatte den Weg der Erlösung kennengelernt – sein einziger Lehrer war der Heilige Geist. Und er hatte auch verstanden: Gehorsam gegenüber Gottes Willen bedeutet, anderen zur Rettung zu verhelfen.
„Ich kann diese gesegnete Botschaft nicht für mich behalten", sagte er sich. Er dachte lange nach, bis ihm schließlich eine einfache, aber wunderbare Aufgabe für den Herrn einfiel.
Sein Bett stand direkt am niedrigen Fenstersims. Irgendwie besorgte er sich Bleistift und Papier. Er schrieb verschiedene Bibelverse auf kleine Zettel, faltete sie, betete darüber – und ließ sie hinunter auf die belebte Straße fallen. Auf jedem stand:
„An den Vorübergehenden – Bitte lesen!"
Er hoffte, dass auf diese Weise jemand von Jesus und Seiner Erlösung hören würde. Dieser liebevolle Dienst, treu ausgeführt, ging mehrere Wochen so weiter. Dann, eines Abends, hörte er unbekannte Schritte auf der Treppe. Kurz darauf betrat ein großer, gut gekleideter Herr das Zimmer und setzte sich ans Bett des Jungen.
„Also du bist der Junge, der die Bibelverse aus dem Fenster wirft?" fragte er freundlich.
„Ja", sagte Tom und hellte auf. „Haben Sie gehört, dass jemand einen gefunden hat?"
„Viele, mein Junge, viele! Würdest du es glauben, wenn ich dir sage, dass ich gestern Abend einen aufgehoben habe – und Gott ihn zu einem Segen für meine Seele gemacht hat?"
„Ich kann glauben, dass Gottes Wort alles bewirken kann, Sir", sagte der Junge demütig.
„Und ich bin gekommen", sagte der Herr, „um dir persönlich zu danken."
„Nicht mir, Sir! Ich schreibe nur – Er segnet."
„Und du bist glücklich in dieser Arbeit für Christus?" fragte der Besucher.
„Ich könnte nicht glücklicher sein, Sir. Die Schmerzen in meinem Rücken bedeuten mir nichts, denn werde ich mich nicht freuen, wenn ich Ihn sehe, Ihm zu sagen, dass ich, sobald ich von Ihm wusste, alles getan habe, was ich konnte, um Ihm zu dienen! Sie haben sicher viele Gelegenheiten dazu, nicht wahr, Sir?"
„Ach, mein Junge, aber ich habe sie vernachlässigt. Doch mit Gottes Hilfe will ich neu anfangen. Zu Hause auf dem Land habe ich einen kranken Jungen, der im Sterben liegt. Ich musste wegen dringender Geschäfte in die Stadt kommen. Als ich mich von ihm verabschiedete, sagte er: ‚Vater, ich wünschte, ich hätte etwas für Jesus getan. Ich kann es nicht ertragen, Ihm mit leeren Händen zu begegnen.' Diese Worte haben mich den ganzen Tag nicht losgelassen, und auch am nächsten Tag nicht – bis zum Abend, als ich durch diese Straße ging und dein kleiner Zettel auf meinen Hut fiel.
Ich öffnete ihn und las: ‚Ich muß wirken die Werke des, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann' (Johannes 9,4). Es klang wie ein Befehl vom Himmel. Es erschütterte mich und brachte mich in jener Nacht auf die Knie.
Ich bekenne mich seit zweiundzwanzig Jahren als Christ, mein Junge. Und als ich nachforschte und herausfand, wer diese Zettel auf die Straße wirft und warum – da beschämte und demütigte mich das so sehr, dass ich beschloss, nach Hause zu gehen und für denselben Herrn zu arbeiten, dem du so treu dienst."
Tränen der Freude rollten über das Gesicht des Jungen. „Das ist zu viel, Sir", sagte er – „ganz und gar zu viel."
„Sag mir, wie hast du es geschafft, das Papier zu bekommen, um damit anzufangen, mein Junge?"
„Das war nicht schwer, Sir. Ich hab einfach mit der Tante gesprochen und angeboten, auf meinen halben Penny Milch zu verzichten, den sie mir die meisten Tage gibt, wenn sie stattdessen Papier kauft. Wissen Sie, Sir, ich werde nicht mehr lange leben. Der Armenarzt sagt, ein paar Monate kaltes Wetter werden mich erledigen, und ein Schluck Milch ist nicht viel aufzugeben für meinen gesegneten Herrn Jesus. Sind die Menschen glücklich, Sir, die viel für Ihn geben können?"
Der Besucher seufzte tief. „Ach, mein Junge, du bist viel glücklicher in diesem elenden Zimmer, wo du Opfer für Christus bringst, als Tausende, die vorgeben, Ihm zu gehören, die Zeit, Talente und Geld haben und wenig oder nichts für Ihn tun."
„Sie kennen Ihn nicht, Sir. Kennen heißt lieben, und lieben heißt dienen."
„Du hast recht, Tom. Aber nun zu dir. Ich muss damit beginnen, dein Leben heller zu machen. Wie wäre es, wenn du deine Tage in einem dieser Heime für gelähmte Jungen verbringen könntest, wo man dich pflegen würde, wo du die Bäume und Blumen sehen und die Vögel singen hören könntest? Ich könnte dich in eines in der Nähe meines Hauses bringen, wenn du möchtest, Tom."
Der erschöpfte Junge blickte nachdenklich in das freundliche Gesicht des Mannes. Nach kurzem Schweigen antwortete er: „Danke, Sir. Ich habe davon gehört. Aber ich möchte nicht bequem sterben, wenn Er so hart gestorben ist. Ich könnte mich vielleicht zu sehr mit diesen Dingen beschäftigen. Ich möchte lieber auf Ihn schauen und diese Arbeit weitermachen, bis Er kommt, um mich zu holen. Für einen Jungen wie mich gibt es genug Freude darin, durch die Ewigkeit eine Wohnung bei Ihm dort oben zu haben."
Der Besucher fühlte sich mehr denn je zurechtgewiesen.
„Nun gut, mein Junge. Dann werde ich dafür sorgen, dass du ordentliches Essen und alles Papier bekommst, das du brauchst, solange du lebst. Ich werde alles mit einer der Bibelfrauen regeln."
Dann erhob sich der Herr und verabschiedete sich. Bevor er London verließ, traf er alle Vorkehrungen für die Versorgung des Jungen. Mit einem fröhlicheren Herzen kehrte er dann in sein schönes Landhaus zurück und lebte fortan für Christus.
So bald er konnte, baute er auf seinem eigenen Grundstück eine Missionsstation und predigte den Dorfbewohnern von Jesus. Als er sein Versagen ihnen gegenüber bekannte und von seiner zweiten Bekehrung durch den gelähmten Jungen und dessen Bibelvers erzählte, begannen viele von ihnen, „Jesus zu suchen".
Nachrichten über den sterbenden Jungen erreichten sie von Zeit zu Zeit durch die Bibelfrau. Doch erst als der Winter kam und der Schnee gefallen war und die Erde mit seiner kristallenen Weiße bedeckt hatte, erfuhren sie, dass der liebe Junge „zu Jesus heimgegangen" war.
Mit derselben Post kam ein Paket, das Toms viel geliebte und viel benutzte Bibel enthielt. Was für eine kostbare Erinnerung war diese markierte Bibel in jenem schönen Haus! Denn als der Freund des gelähmten Jungen sie seinem jüngsten Sohn zum Lesen gab – die sorgfältigen Markierungen, die kurzen einfachen Gebete, die der gelähmte Junge an den Rand geschrieben hatte, und sein letzter Wunsch auf dem Vorsatzblatt, etwa eine Woche vor seinem Tod geschrieben: „Möge dieses Heilige Buch für jemand anderen ein ebenso großer Freund werden, wie es für mich gewesen ist" – all das machte einen so tiefen Eindruck auf den jungen Mann, dass er sich dem Herrn hingab und später in die Missionsarbeit in fernen Ländern ging.
Draußen in Zentralafrika hat er diese abgegriffene Bibel vielen einheimischen Christen gezeigt, wenn er ihnen vom gelähmten Tom und seinen Bibelversen erzählte.
Sieht der Leser nicht, was ein einziges, völlig hingegebenes, demütiges, selbstloses Leben bewirken kann? Und sind wir nicht davon überzeugt, dass etwas schrecklich falsch läuft, wenn es nicht mehr solcher Leben gibt? Tausende trauriger, müder Herzen warten auf den kleinen Liebesdienst, den wir ihnen erweisen könnten.
Werden wir es uns also bequem machen, unsere Vergnügungen genießen oder uns unseren Luxus gönnen? Millionen von Menschen in Dunkelheit rufen nach dem Licht. Sie müssen weiter im Dunkeln tappen, während viele von uns, die vorgeben, Christus zu lieben, selbstzentriert und selbstgefällig leben. Heute könnten Christen – ohne die Hilfe der Welt – genug Missionare aussenden, um die Welt zu evangelisieren. Doch der dunkle Fleck des „Ich will nicht" befleckt ihren guten Namen mit einem Makel, den nur das Blut Jesu Christi je wieder abwaschen kann.
Oh, dass der Geist Gottes durch Seine mächtige Kraft alle Trägheit, Unaufrichtigkeit und Selbstzufriedenheit aus unserem Leben reinigen würde! Denn Christus nachzufolgen bedeutet Selbstaufopferung und Selbstverleugnung – und ohne diese gibt es keine Heiligkeit.
Wenn ein sterbender Junge in Leid und Not sich freudig den kleinen Schluck Milch versagen konnte, der seine ausgedörrten Lippen kühlte und seinen erschöpften Körper teilweise nährte – dann ist es für uns sicherlich möglich, mehr zu tun!
„Es gibt einsame Herzen zu trösten,
Während die Tage vergehen;
Es gibt müde Seelen, die zugrunde gehen,
Während die Tage vergehen;
Wenn wir ein Lächeln erneuern können,
Auf unserer Reise, die wir verfolgen,
Oh, das Gute, das wir alle tun können,
Während die Tage vergehen."
Wer ist also bereit, seinen Dienst heute dem Herrn zu weihen?
________________________________________
Quellenangabe und Copyright-Hinweis
Originaltitel: "The Story of Cripple Tom, or, Knowing is Loving, and Loving is Doing."
Originalautor: Mrs. Searle (Mary Louisa Baker, geb. Charlesworth, 1846–1925)
Pseudonym: Mrs. Walter Searle
Originalverlag: Gospel Book Depot, 20 Paternoster Square, London, England
Urheberrechtsstatus: Das englische Original ist gemeinfrei (Public Domain). Die Autorin Mary Louisa Baker verstarb 1925. Nach deutschem und internationalem Urheberrecht (70 Jahre post mortem auctoris) ist das Werk seit 1995 gemeinfrei und kann ohne Einschränkungen übersetzt, bearbeitet und veröffentlicht werden. Diese deutsche Fassung: Übersetzte und bearbeitete Version für die private Homepage fudickar.info. Die inhaltliche Substanz der Geschichte wurde bewahrt, während Formulierungen und Stil für die heutige Leserschaft angepasst wurden. Das Bibelzitat verwendet die Luther-Übersetzung 1912 (gemeinfrei). Rechtlicher Hinweis: Diese Übersetzung und Bearbeitung eines gemeinfreien Werkes darf frei verwendet, weitergegeben und vervielfältigt werden, sofern diese Original-Quellenangabe erhalten bleibt.